Nationalsozialismus in transnationaler Perspektive – mit Schwerpunkt auf den deutsch-ungarischen Rechtstransfer

Nationalsozialismus in transnationaler Perspektive – mit Schwerpunkt auf den deutsch-ungarischen Rechtstransfer

Organisatoren
Eva Schumann, Institut für Grundlagen des Rechts – Abteilung für Deutsche Rechtsgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen
Förderer
Alexander von Humboldt-Stiftung; Göttinger Vereinigung zur Pflege der Rechtsgeschichte e.V.; Universitätsbund Göttingen e.V.
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.03.2023 - 29.03.2023
Von
Oliver Hartlieb, Institut für Grundlagen des Rechts – Abteilung für Deutsche Rechtsgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die Tagung präsentierte wesentliche Ergebnisse der seit 2019 zwischen den Universitäten Pécs und Göttingen bestehenden Forschungspartnerschaft zu „Theorie und Praxis der Entrechtung in der zweiten Hälfte der Horthy-Ära im Vergleich mit dem NS-Regime“. Im Verlauf der bewusst breit konzipierten, von der Alexander von Humboldt-Stiftung finanzierten Forschungskooperation sollten insbesondere der Transfer von Recht und Rechtskonzeptionen, die praktischen Auswirkungen sowie die institutionellen und persönlichen Interaktionen ungarischer und deutscher Akteure untersucht werden, um so einen Beitrag zu der bislang vernachlässigten transnationalen Perspektive auf den Nationalsozialismus in der Rechtsgeschichte zu leisten. Um die Projektergebnisse in einen breiteren Kontext zu stellen, wurde die deutsch-ungarische Perspektive erweitert sowie neue Forschungsfragen aufgeworfen.

DIETER POHL (Klagenfurt) eröffnete die Tagung mit einem grundlegenden Vortrag zum „völkischen Europa“, in dem er länderübergreifend die Entstehung völkischer und faschistischer Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg im gesamteuropäischen Kontext einordnete. Neben den rassistisch-antisemitischen Gemeinsamkeiten betonte Pohl aber auch nationale Unterschiede. Gleichzeitig hob er die Bedeutung transnationaler institutioneller Netzwerke wie auch die von ihm als „weiche Strukturen“ bezeichneten informellen und persönlichen Kontakte bei der Radikalisierung der Bewegungen heraus. Damit verwies er auf einen Aspekt, der auch für den zwischenstaatlichen Rechtstransfer von entscheidender Bedeutung war.

Dass diese Interaktionen keineswegs auf Europa beschränkt blieben, zeigte anschließend DAN SATO (Kyōto) beispielhaft anhand des japanischen Rechtshistorikers Satoshi Nishimoto auf. Dieser hatte im Anschluss an seine Studienaufenthalte in München und Berlin in den 1930er-Jahren versucht, die geopolitische Zielsetzung der Deutschen Rechtsgeschichte in der NS-Zeit zur theoretischen Begründung der japanischen Expansionsbestrebungen in Asien nutzbar zu machen.

Das zweite Panel, das die Rechtsbeziehungen zwischen NS- und Horthy-Regime zum Oberthema hatte, begann mit Vorträgen der beiden Initiatorinnen des Projekts. EVA SCHUMANN (Göttingen) ging auf die seinerzeit u.a. von Roland Freisler geforderte „zwischenstaatliche Zusammenarbeit der Rechtswahrer“ ein und thematisierte vor allem die Rolle der Akademie für Deutsches Recht im internationalen Austausch zwischen den europäischen Juristen. Institutionen wie die Akademie, aber auch die 1941 gegründete Internationale Rechtskammer bildeten hierfür den Rahmen, wobei neben diesen institutionalisierten Kontakten gerade auch die bereits erwähnten „weichen Strukturen“ entscheidende Bedeutung gehabt haben dürften. Schumann betonte, dass dieses Feld der Juristischen Zeitgeschichte noch weitgehend unerforscht sei.

Dass der Kontakt mit den NS-Rechtsideen auf ungarischer Seite durchaus ambivalent gesehen wurde, stellte anschließend ESZTER HERGER (Pécs) heraus. Eine einseitig positive oder gar begeisterte Stimmung, wie sie sich in vielen deutschsprachigen Publikationen ungarischer Juristen dieser Zeit findet, entsprach offenbar keineswegs der Realität. Vielmehr sei die Eigenheit einer völkisch-nationalen Rechtsentwicklung in Ungarn betont worden. Insoweit bestehen durchaus Parallelen zur Argumentationsweise vieler NS-Rechtswissenschaftler, wenn auch natürlich unter anderen Vorzeichen.

Als ein anschauliches Beispiel für die praktischen rechtlichen Auswirkungen der deutschen Großraumbestrebungen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges können die Rechtshilfeverträge des Reiches mit zahlreichen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas gelten. GERRIT HAMANN (Celle) ging bei seiner Darstellung der deutsch-ungarischen Rechtshilfeabkommen Anfang der 1940er-Jahre auch auf die vorausgegangenen Verhandlungen ein, an denen u.a. der spätere Kanzleramtschef Konrad Adenauers, Hans Globke, sowie der spätere Kriegsverbrecher Max Merten maßgeblich beteiligt waren.

Den dritten Block zu den zeitgenössischen transnationalen Diskursen zum NS-Recht eröffnete KAMILA STAUDIGL-CIECHOWICZ (Wien) mit einem Überblick über die österreichische Sicht auf die deutsche Rechtsentwicklung vor dem „Anschluss“ 1938 und gab dabei bereits im Titel den passenden Dreiklang „Verehrung – Indifferenz – Missbilligung“ vor, der sich so ähnlich auch in weiteren Vorträgen des Panels wiederfand.

PÉTER TECHET (Freiburg) lenkte den Blick anschließend erneut nach Ungarn, wobei die Vortragsreisen Carl Schmitts 1942 und 1943 als Anknüpfungspunkt dienten. Auch hier ergab sich, so der Referent, ein durchaus ambivalentes Bild zwischen Bewunderung und klarer Abgrenzung, insbesondere in Bezug auf Schmitts Großraum-Thesen.

Abgeschlossen wurden der Block von GÁBOR SCHWEITZER und BALÁZS TIMÁR (beide Budapest), die in ihren Vorträgen weitere Einblicke in die ungarischen Rechtsdiskurse vor dem Hintergrund der Entwicklung des „Dritten Reichs“ boten und dabei ebenfalls die völkisch-nationalen Eigenheiten in Ungarn betonten.

Die Fortsetzung stand im Lichte zweier konkreter Felder des Rechtstransfers – zum einen der Entrechtung der jüdischen Bevölkerung und zum anderen des NS-Volksgruppenrechts und der Minderheitenpolitik in Ungarn. Den ersten Themenkomplex eröffnete MILOSLAV SZABÓ (Bratislava) mit seinem Vortrag zu den Entwicklungen des europäischen Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit und arbeitete dabei Parallelen wie auch Unterschiede zwischen den Ländern heraus.

IVÁN HALÁSZ (Budapest/Košice) sprach über die keineswegs einheitliche Gesetzgebung und Rechtspraxis in der Slowakei im Zweiten Weltkrieg, und VERONIKA LEHOTAY (Miskolc) stellte die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in der Praxis der ungarischen Strafgerichte anhand ihrer Quellenstudien der Gerichtsakten von Miskolc im Rahmen der Forschungskooperation dar.

Der Vergleich der „Judengesetzgebung“ Deutschlands und Ungarns von HELEN AHLKE ABRAM (Göttingen) musste krankheitsbedingt entfallen, wird jedoch als Beitrag im Tagungsband erscheinen.

Das vierte Panel endete mit einer angeregten Diskussion, in der WOLFGANG SCHIEDER (Köln/Göttingen) und MICHAEL FAHLBUSCH (Bern) auf die vielgestaltigen Hintergründe antijüdischer Gesetze in den europäischen Staaten jener Zeit hinwiesen. So seien neben den antisemitisch-ideologischen auch oft politische und ökonomische Begebenheiten oder gar persönliche Hintergründe der Akteure ausschlaggebend gewesen. Eszter Herger wies in diesem Zusammenhang auch auf die Einflüsse unterschiedlicher religiöser Ausgangs- und Interessenlagen in den Ländern hin. Inwieweit schließlich der deutsche „rassische“ Antisemitismus und seine rechtliche Verwirklichung im „Dritten Reich“ als Vorbild für die Rechtssetzung anderer Länder diente, müsse daher einzelfallbezogen betrachtet werden. Auch hier verbietet sich somit eine allzu vereinheitlichende gesamteuropäische Darstellung.

TIMO MARCEL ALBRECHT (Göttingen) eröffnete mit seinem Vortrag zu den deutschen Volksgruppenrechten in „Donaueuropa“ das letzte Panel der Tagung. Die Behandlung nationaler Minderheiten, insbesondere die der deutschen, stellten für die gesamte Zwischenkriegszeit wie auch zwischen 1939 und 1945 ein besonders relevantes Feld transnationaler Prozesse im Recht dar. Der Schutz der sogenannten deutschen Volksgruppen diente der NS-Propaganda vielfach als Anknüpfungspunkt für Einflussnahme- und Interventionsbestrebungen im Ausland. Der Referent stellte fest, dass hier weniger von einem Transfer von Recht die Rede sein könne, als vielmehr von einem Transfer rechtswissenschaftlicher Konzeptionen, die auf unterschiedliche Weise Eingang in völkerrechtliche Verträge und die nationalstaatliche Rechtsetzung fanden. Die sich selbst als politisch verstehende NS-Volksgruppenrechtswissenschaft habe so zumindest mittelbar einen recht weitreichenden Einfluss auf die praktische rechtliche Behandlung der deutschen Volksgruppen in den jeweiligen Ländern vor allem Südosteuropas gehabt.

Dass trotz solcher Einflüsse auch diese Entwicklung nicht einseitig vonstatten ging und die jeweiligen Länder eigene nationale Interessen in der Minderheitenpolitik verfolgten, stellten die weiteren Referenten heraus. ZSOLT VITÁRI (Pécs) legte die ungarische Perspektive auf die Minderheiten und das NS-Volksgruppenrecht während der Horthy-Ära dar.

Assimilations- bzw. Magyarisierungsbestrebungen der ungarischen Minderheitenpolitik einerseits sowie Dissimilationstendenzen und aufkommendem Nationalbewusstsein der deutschen Volksgruppe andererseits veranschaulichten die beiden letzten Vorträge der Tagung. NORBERT SPANNENBERGER (Leipzig) ging anhand einer Fallstudie zu den juristischen Auseinandersetzungen über Äußerungen des späteren „Volksgruppenführers“ in Ungarn, Franz Anton Basch, Mitte der 1930er-Jahre auf die vielschichtigen Interessenlagen der Minderheitenpolitik Ungarns ein.

PATRÍCIA DOMINIKA NIKLAI (Pécs) beleuchtete abschließend die Minderheitenpraxis im Bereich der Schulbildung und betonte hierbei ebenfalls die bisher in der Forschung eher unterrepräsentierte ungarische Eigenperspektive.

In der Abschlussdiskussion der Tagung stellte Eva Schumann die zahlreichen neuen Erkenntnisse und Anknüpfungspunkte bei der Betrachtung des transnationalen Rechtstransfers während der Zwischenkriegsjahre und des Zweiten Weltkriegs heraus. Insbesondere die nationale Perspektive der jeweiligen Länder auf das NS-Recht und mögliche Beeinflussungen stellten sich deutlich vielschichtiger dar, als bislang von der deutschen Rechtsgeschichtsforschung angenommen. Dass die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven bei der Betrachtung historische Begrifflichkeiten und Kategorien, wie beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer „Volksgruppe“, von hoher Bedeutung sei, hob Stefan Hördler (Göttingen) in seinem Fazit hervor. Gerade bei diesem Beispiel hätte es enorme Unterschiede in der Eigen- und Fremdwahrnehmung der Betroffenen gegeben. Maria Rhode (Göttingen) betonte die zutage getretenen landesspezifischen Besonderheiten bei den Transferprozessen, die noch eine Vielzahl weiterer Forschungsvorhaben wert seien. Diesem Fazit schloss sich Timo Marcel Albrecht an, der stellvertretend für das deutsche Projektteam feststellte, dass das Echo auf die NS-Rechtsdiskurse im Ausland diverser ausgefallen sei als bisher angenommen. Gerade dem länderübergreifenden Kontakt zwischen den Juristen lagen somit offenbar vielfältigere Prozesse und Absichten zugrunde, als dies die deutschsprachigen Publikationen jener Zeit nahelegen. Eszter Herger resümierte abschließend den Verlauf und die Ergebnisse des Projekts. Dabei betonte sie noch einmal die Wichtigkeit des internationalen Austausches – nicht zuletzt für die nationale ungarische Rechtsgeschichtsforschung bezogen auf die Jahre 1920 bis 1944.

Konferenzübersicht:

Panel A: NS transnational
Moderation: Wolfgang Schieder (Köln / Göttingen)

Dieter Pohl (Klagenfurt): Ein völkisches Europa

Dan Sato (Kyōto): Die „Neue Europäische Ordnung“ in der japanischen Rechtsgeschichtsforschung

Panel B: Rechtsbeziehungen zwischen dem NS- und dem Horthy-Regime
Moderation: Adrian Schmidt-Recla (Jena)

Eva Schumann (Göttingen): „Zwischenstaatliche Zusammenarbeit der Rechtswahrer“ – Interaktionen zwischen dem NS-Regime und Ungarn

Eszter Herger (Pécs): NS-Rechtstransfer aus ungarischer Perspektive

Gerrit Hamann (Celle): Rechtshilfeverträge im Lichte von Krieg und Expansion – Ablauf, Motive und Protagonisten der deutsch-ungarischen Rechtshilfeverhandlungen 1939–1941

Panel C: Transnationale Diskurse zum NS-Recht
Moderation: Timo Marcel Albrecht (Göttingen)

Kamila Staudigl-Ciechowcz (Wien): Verehrung – Indifferenz – Missbilligung? Das NS-Staatsrecht im österreichischen Rechtsdiskurs

Péter Techet (Freiburg): Carl Schmitts Reisen nach Ungarn und in das ungarische Rechtsdenken

Gábor Schweitzer (Budapest): „The New Direction of Constitutional Law” – The Echo of German National Socialist Constitutional Law in Hungary’s Legal Discourses

Balázs Timár (Budapest): Reflections on the NS Legal System in Hungary

Panel D: Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in transnationaler Perspektive
Moderation: Maria Rhode (Göttingen)

Miloslav Szabó (Bratislava): Der Antisemitismus in Zentraleuropa zwischen den Weltkriegen – Semantik, soziale Praxis, politische Programmatik

Iván Halász (Budapest/Košice): Political System and Anti-Jewish Laws in Slovakia during the Second World War

Helen Ahlke Abram (Göttingen): „Judengesetzgebung” im deutsch-ungarischen Vergleich

Veronika Lehotay (Miskolc): Entrechtung der Juden in der ungarischen Gerichtspraxis

Panel E: NS-Volksgruppenrecht und ungarische Minderheitenpolitik
Moderation: Stefan Hördler (Göttingen)

Timo Marcel Albrecht (Göttingen): Deutsches Volksgruppenrecht in Donaueuropa – Transnationaler Vergleich eines NS-Rechtstransfers

Zsolt Vitári (Pécs): Ungarns Minderheitenrechtler der Horthy-Ära – Verbindungen zum „Dritten Reich“ und ihre Haltungen zum NS-Volksgruppenrecht

Norbert Spannenberger (Leipzig): Der erste Basch-Prozess 1934: juristische Ahndung politischen Engagements

Patrícia Dominika Niklai (Pécs): Ungarns Assimilationspolitik im Kultur- und Bildungsbereich – Eine Analyse von Rechtssetzung und Rechtspraxis

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